Long COVID und ME/CFS – Einordnung, Terminologie und Forschungsstand

Hinweis: Dieser Beitrag dient der neutralen, wissenschaftlichen Information und ersetzt keine medizinische Beratung. Es werden keine Heilaussagen getroffen und keine Wirksamkeit bestimmter Produkte behauptet.

Long COVID und die Verbindung zum chronischen Müdigkeitssyndrom

Der epidemiologische Einfluss von Long COVID hat die Aufmerksamkeit erneut auf ein stark beeinträchtigendes und zugleich schwer fassbares klinisches Bild gelenkt: das sogenannte chronische Müdigkeitssyndrom (CFS). Prospektive und retrospektive Untersuchungen berichten, dass ein Teil der Personen nach Abklingen der akuten SARS-CoV-2-Infektion anhaltende Erschöpfung, kognitive Beeinträchtigung („Gehirnnebel“), orthostatische Intoleranz, Myalgien und Schlafstörungen erfährt (Medicina 2022; Front Med 2022). Diese unter dem Sammelbegriff Long COVID beschriebenen Symptome können – abhängig von Kriterienerfüllung und Differenzialdiagnostik – mit ME/CFS überlappen.

Begriffe und historische Entwicklung

Mit „chronischem Müdigkeitssyndrom (CFS)“ wird ein multisystemischer Zustand bezeichnet, der primär durch chronische, nicht hinreichend erklärte und belastungsassoziierte Erschöpfung gekennzeichnet ist. Fehlinterpretationen und Fehldiagnosen sind beschrieben, was u. a. mit der Unspezifität einzelner Symptome und dem Fehlen allgemein etablierter Biomarker zusammenhängt (JAMA 2015). Die heutige Terminologie entwickelte sich aus historischen Bezeichnungen. Der Begriff Myalgische Enzephalomyelitis (ME) wurde in den 1950er-Jahren zur Beschreibung clusterartig beobachteter Symptomkonstellationen verwendet. 1988 führte die CDC die Bezeichnung CFS ein, um eine phänotypisch orientierte, ätiologisch neutrale Nomenklatur zu etablieren. Ein Bericht des Institute of Medicine (IOM) schlug 2015 die Bezeichnung Systemic Exertion Intolerance Disease (SEID) vor, um das zentrale Merkmal der belastungsinduzierten Verschlechterung stärker zu betonen (The Lancet 2015; JAMA 2015).

Kernsymptom: Postexertionale Malaise (PEM)

Als charakteristisches Merkmal gilt die postexertionale Malaise (PEM), d. h. die Verschlechterung des individuellen Symptomsets nach zuvor tolerierten körperlichen, kognitiven, orthostatischen, emotionalen oder sensorischen Belastungen. PEM lässt sich von Erschöpfung im Rahmen anderer Erkrankungen dadurch abgrenzen, dass bei wiederholter Testung eine Verschlechterung der Energieverfügbarkeit beobachtet werden kann. Nach IOM-Kriterien (2015) erfordert die Diagnose u. a. das Vorliegen von PEM über mindestens sechs Monate hinweg mit erheblicher Funktionsbeeinträchtigung gegenüber dem Ausgangsniveau sowie nicht erholsamem Schlaf und zusätzlich kognitiver Beeinträchtigung oder orthostatischer Intoleranz (JAMA 2015).

Epidemiologie

Schätzungen zur Prävalenz von ME/CFS variieren, in der Literatur werden Werte bis zu ~1 % der Bevölkerung diskutiert. Ein erheblicher Anteil Betroffener erlebt schwere Funktionseinschränkungen, teils mit Bettlägerigkeit (JAMA 2015). Unterschiede ergeben sich je nach Definition, Einschlusskriterien und untersuchter Population.

Pathophysiologische Hinweise

Die Ätiologie von ME/CFS ist noch nicht abschließend geklärt. Dennoch liegen umfangreiche Hinweise auf komplexe immunologische, autonome, neurologische und metabolische Veränderungen vor:
  • Immunologie: Berichte über Autoantikörper (u. a. gegen β2-adrenerge Rezeptoren) und NK-Zell-Dysfunktion (Mayo Clin Proc 2021).
  • Autonomes Nervensystem: Hohe Prävalenz orthostatischer Intoleranz (POTS, orthostatische Hypotonie, neural vermittelte Hypotonie) sowie Veränderungen der Herzfrequenzvariabilität (Front Med 2022).
  • Zentrales Nervensystem: Neuroinflammatorische Befunde, reduzierte weiße Substanz und veränderte Perfusion in Hirnstudien (Metab Brain Dis 2013).
  • Energiestoffwechsel: Auffälligkeiten in der ATP-Bereitstellung, assoziiert mit PEM.

Klinische Versorgung und symptomorientierte Ansätze

Speziell zugelassene Behandlungen für ME/CFS existieren nicht. In der Versorgungspraxis werden symptomorientierte, pharmakologische und nicht-pharmakologische Maßnahmen angewendet. Diskutiert werden u. a.:
  • Aktivitätsanpassung (z. B. Pacing) zur Handhabung von PEM,
  • Volumen- und Salzstrategien oder medikamentöse Optionen bei orthostatischer Intoleranz,
  • autonome Modulationsverfahren wie Vagusnerv-bezogene Ansätze, die in der Forschung untersucht werden.
Die Anwendung erfolgt stets individuell und unter ärztlicher Betreuung; gesicherte Indikationszulassungen liegen derzeit nicht vor.

Vagusnerv und neuromodulatorische Forschung

Der Vagusnerv wird als möglicher Schlüsselfaktor in der Interaktion zwischen Immunsystem, autonomem Nervensystem und Symptomkomplexen wie Schmerz, Schlaf und Erschöpfung diskutiert (Neurosci Biobehav Rev 2021). Erste funktionelle Bildgebungsstudien zeigen, dass transkutane aurikuläre Vagusnervstimulation (taVNS) kortikale Netzwerke beeinflussen kann (Front Neurol 2022). Auch immunologische Marker werden in explorativen Studien untersucht. Für ME/CFS und Long COVID gilt: Die Datenlage ist vorläufig, größere kontrollierte Studien sind erforderlich, bevor belastbare klinische Empfehlungen abgeleitet werden können (Metab Brain Dis 2013).

Fazit

ME/CFS ist ein komplexes, multisystemisches Syndrom mit vielfältigen Symptomen und unklarer Ätiologie. Long COVID hat zu einer verstärkten wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geführt, da viele Symptome überlappen. Forschungsergebnisse deuten auf immunologische, autonome und neurologische Veränderungen hin. Die Vagusnervstimulation wird derzeit als möglicher Ansatz in Studien untersucht, belastbare Aussagen zur Wirksamkeit sind jedoch noch nicht möglich.

Nurosym

Transkutane elektrische Vagusnervstimulation
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